Deutschland und die Europäische Union haben sich zum Ziel gesetzt, bis zur Mitte des Jahrhunderts klimaneutral zu werden, was bedeutet, die Nettoemissionen von Treibhausgasen auf null zu reduzieren. Dies betrifft auch die Land- und Ernährungswirtschaft, die sich ebenfalls auf diesen Weg begeben muss. Kritische Stimmen befürchten, dass dieses Vorhaben entweder zu Lasten der Produktivität gehen oder unrealistisch hohe Kosten verursachen könnte. Doch der Think Tank Agora Agrar sieht dies anders. In ihrer neuesten Studie, die am Dienstag veröffentlicht wurde, prognostizieren die Forscher um Prof. Harald Grethe und Dr. Christine Chemnitz, dass die europäische Land- und Forstwirtschaft ihre Treibhausgasemissionen bis 2050 um 60 % senken könnte, ohne Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln oder Biomasse zu riskieren.
Prof. Grethe betont das große Potenzial der Land- und Forstwirtschaft, zum Klimaschutz und zur Biodiversität beizutragen. Die Verfügbarkeit von Nahrung und Biomasse sei unter den richtigen Rahmenbedingungen gesichert, ohne dass Abhängigkeiten vom Weltmarkt entstehen würden. Die Studie suggeriert sogar, dass die EU zum Nettoexporteur werden könnte, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Dazu gehören umfassende Änderungen im Verbrauch von Rohstoffen und eine erhebliche Steigerung der Flächeneffizienz. Ein spezieller Fokus liegt auf der Implementierung von Agroforstsystemen, die auf rund 8 % der EU-Ackerflächen realisiert werden sollen, um landwirtschaftliche und forstwirtschaftliche Nutzung zu kombinieren und gleichzeitig den Artenschutz zu fördern.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der vorgeschlagenen Maßnahmen ist die Wiedervernässung von Moorstandorten. Die Agora Agrar-Forscher weisen darauf hin, dass auf nur 2 % der ehemaligen nassen Moorböden derzeit 20 % der Emissionen entstehen. Durch die Wiedervernässung von 80 % der drainierten Moore könnten jährlich etwa 70 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Dies würde allerdings bedeuten, dass diese Flächen nicht länger für traditionelle Grünlandnutzung zur Verfügung stünden, weshalb alternative Nutzungsformen wie Paludikulturen gefördert werden sollten. Hierfür schlägt Grethe Prämien in Höhe der Opportunitätskosten von etwa 1.000 Euro pro Hektar und Investitionen in neue Wertschöpfungsketten vor.
Ein signifikanter Rückgang der Tierbestände ist ebenfalls Teil des vorgeschlagenen Szenarios. Die Forscher gehen davon aus, dass eine nachhaltige Nachfrage, insbesondere durch eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten hin zu einer pflanzenbasierten Kost, bis zur Jahrhundertmitte zu einer Halbierung des Verzehrs tierischer Produkte führen könnte. Dies würde nicht nur Flächen für die Pflanzenproduktion freimachen, sondern auch den Artenschutz und die Biomasseproduktion fördern.
Die Agora-Forscher sind der Meinung, dass diese umfangreichen Veränderungen keine Überforderung für die Agrarbetriebe darstellen, sondern vielmehr neue Geschäftsmodelle und Einkommensmöglichkeiten eröffnen würden, etwa durch die Erzeugung erneuerbarer Energien und die Kohlenstoffspeicherung. Um diese Potenziale zu realisieren, bedarf es jedoch politischer Unterstützung, beispielsweise durch eine Bepreisung von Treibhausgasemissionen und Zahlungen für öffentliche Güter wie Klimaschutz und Artenschutz.